1945 bis 1957 – Das „Haus der werktätigen Frauen Rostock“
Wann der Rechtsanwalt Otto Düwel die Villa Kaiser-Wilhelm-Straße 6 verließ, lässt sich nicht genau klären, denn erst 1949/50 erschien wieder und auch letztmalig ein Adressbuch. Und in diesem sind unter der Adresse Rosa-Luxemburg-Straße 6 als Nutzer aufgeführt: der Demokratische Frauenbund Deutschlands, Ortsgruppe Rostock und der Hausmeister Eberhard Holtzhausen. Obwohl Düwel das Haus nicht mehr bewohnte und nachweislich ab 1957, wahrscheinlich schon sehr viel früher, auch nicht als Vermieter in Erscheinung trat, so blieb er bis März 1993 als Eigentümer im Grundbuch stehen.
Für den Demokratischen Frauenbund Deutschlands wird im Rostocker Telefonbuch letztmalig im Jahr 1957 als Adresse die Rosa-Luxemburg-Straße angegeben, mittlerweile sogar als Sitz der Bezirksorganisation Rostock, der Kreisorganisation Rostock-Stadt und der Kreisorganisation Rostock-Land.
Die Aufschrift „Haus der werktätigen Frauen“ an der Hauswand war nach 1957 wohl übertüncht worden und wurde ab den 1980er Jahren wieder sichtbar. Ausschnitt aus einem Foto aus dem Jahr 2003
1957-1968 – Das Entbindungsheim
Anfang und Mitte der 1950er Jahre war das Entbindungsheim der Poliklinik Paulstraße in August-Bebel-Str. 1b untergebracht. Wohl aus Platzgründen wurde ein Umzug notwendig. Am 05.06.1957 übergab die Abteilung Gesundheitswesen des Rates der Stadt Rostock an die Abteilung Aufbau des Rates der Stadt „einen Bauantrag für den Umbau des Hauses Rosa-Luxemburg-Str. Nr. 6 in ein Entbindungsheim.“ Für diesen Umbau hatte es einen Beschluss des Rates der Stadt gegeben. Bereits am 06.07.1957 wurde die Baugenehmigung erteilt. Mit Schreiben vom 15.08.1957 wurden von der Bauaufsicht die Kosten des Umbaus auf 8.412,- DM festgelegt.
Es wurden Trennwände eingezogen, Decken abgehängt, neue elektrische Leitungen und Fliesen gelegt. Das Haus befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Zuständigkeit der Abt. Treuhand des VEB (K) Grundstücksverwaltung der Stadt Rostock.
Und so wurde aus dem Salon ein Kreissaal.
Foto ca. von 1960, das Schild mit der Hausnummer 6 trägt die Aufschrift „Städt. Poliklinik, Entbindungs-Heim“. Die zweiflügelige
Tür im Untergeschoss gehört zu der von Otto Düwel 1927 eingerichteten Garage. (Bildrechte: Archiv der Hansestadt Rostock)
Von 1958 bis ca. 1968 war die Rosa-Luxemburg-Straße 6 eine Außenstelle der Poliklinik Mitte in der Paulstraße und wurde als Entbindungsheim genutzt. Das Haus hatte eine Kapazität von 32 Wöchnerinnenbetten sowie ein Zimmer für die Säuglinge. Die Wöchnerinnen waren in Zwei- bis Sechs-Bett-Zimmern untergebracht. Die meisten Betten befanden sich im Obergeschoss. Einen Aufzug gab es nicht, was zu Problemen führte. So gibt es Berichte, dass es mehrfach passiert sei, dass der leitende Arzt des Entbindungsheims die jungen Mütter nach der Niederkunft in das Obergeschoss getragen hat. Im Haus waren bei kleineren Schwankungen 33 bis 35 Personen beschäftigt, davon einige in Teilzeit, was ca. 30 bis 32 Vollzeitstellen entsprach.
Stellenplan 1960: 1 Facharzt mit zusätzlicher Tätigkeit (die Stelle hat 0,3 VbE), 1 leitende Schwester, 1 leitende Hebamme, 3 Hebammen, 11 Pflegerinnen, 7 Schwestern, 1 Hauswart, 1 Heizer, 3 Reinigungskräfte, 1 Köchin, 1 Hilfsköchin, 1 Näherin, 2 Wäscherinnen
Gesamt: 34
Lohnkosten 1960 (Plan): 170.946,87 DM
Wie aus dem Stellenplan ersichtlich, gab es nur einen Arzt im Entbindungsheim. Dr. Albrecht Ibrügger nahm diese Tätigkeit zusätzlich zu der als niedergelassener Arzt wahr. Herr Dr. Ibrügger (13.02.1919-28.02.2000) hatte während des 2. Weltkrieges Medizin studiert. Die Wirren der Nachkriegszeit verschlugen ihn nach Rostock, wo er als Assistenzarzt in der Frauenklinik Doberaner Straße seine berufliche Laufbahn begann.
aus dem Rostocker Adressbuch 1949/1950
In den 1950er Jahren übernahm Dr. Ibrügger die Leitung des Entbindungsheims August-Bebel-Str. 1b. Mit dem Umzug des Entbindungsheims in die Rosa-Luxemburg-Straße, spätestens jedoch 1959 eröffnete Dr. Ibrügger seine Praxis in der Stephanstr. 16.
In den 1960er Jahren gab es Probleme mit der Beheizung des Hauses und mit dem Schornstein. Geld und Material waren knapp und sollten nicht für ein treuhänderisch verwaltetes Haus ausgegeben werden. Zeitweise war die Beheizung des Hauses verboten, weil der Schornstein undicht war. Trotzdem wurde der Schornstein wohl nur notdürftig saniert. Der Streit zwischen Poliklinik und Hausverwaltung um eine umfassende Sanierung des Schornsteins dauerte von Mai 1965 bis mindestens 1969. So wurde in einem Schreiben des Betriebsleiters der kommunalen Wohnungsverwaltung vom 23.04.1969 an den technischen Leiter der Poliklinik Mitte ausgeführt, dass der Neubau des Schornsteins wenig sinnvoll sei, weil die Stadtplanung darauf hingewiesen habe, „daß in absehbarer Zeit (ca 6 – 8 Jahren) die Rosa-Luxemburg-Straße vom Bahnhof kommend abgebrochen werden soll.“ Diese Ausführungen waren keine Ausreden. 1968 war einige Häuser weiter das Gebäude des Wohnungsbaukombinats Rostock (WBK) fertiggestellt worden. Es steht heute beispielhaft für die gesamte geplante Bebauung der Westseite der Rosa-Luxemburg-Straße.
Ausschnitt aus einem städtebaulichen Modell. Das gelbe Rechteck gibt den Standort der Rosa-Luxemburg-Straße 6 wieder, dahinter ist der Wasserturm gut zu erkennen. Rot markiert ist das Gebäude des Wohnungsbaukombinats. Rechts im Bild ein neuer Hauptbahnhof, davor im Bestand erhalten die Goetheschule. Ebenfalls im Bestand zu erkennen ist die St.-Georg-Schule. Das Gesamtmodell und weitere Entwürfe von Rostocker Baumaßnahmen und –plänen waren vom 02. Oktober 1969 bis 31. Januar 1970 in der Berliner Nationalgalerie in der Ausstellung „Architektur und Bildende Kunst. Ausstellung zum 20. Jahrestag der DDR“ zu sehen. (Bildrechte: SLUB, Deutsche Fotothek, Steuerlein)
Wahrscheinlich stand die Schließung des Entbindungsheims 1968 im Zusammenhang mit dem Neubau des Bezirkskrankenhauses in der Rostocker Südstadt. Belege dafür habe ich bisher nicht gefunden.
Die Sondertagesstätte 1969-1988
Ab dem 10.03.1969 hatte das Haus dann einen neuen Nutzungszweck. Unter der Überschrift „Wunsch vieler Familien ging jetzt in Erfüllung. Poliklinik Mitte eröffnete gestern Sondertagesstätte“ wurde in der Ostsee-Zeitung am 11.03.1969 berichtet. „Aus Anlaß des Internationalen Frauentages eröffnete die Poliklinik Mitte gestern eine Sondertagesstätte für geistig schwer behinderte Kinder. In Zusammenarbeit mit der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen beim Rat der Stadt konnte das ehemalige Entbindungsheim in der Rosa-Luxemburg-Straße für die heilpädagogische Arbeit mit schulbildungsunfähigen, aber noch förderungsfähigen Kindern, umprofiliert werden.“ Für diese Maßnahme hatte es eine entsprechende Weisung gegeben: „Die sozialistische Gesellschaft übernimmt hier eine zutiefst humanistische Aufgabe. Nachdem im vergangenen Jahr der Volkskammerausschuß für Gesundheitswesen die Einrichtungen von Tagesstätten für geistig schwerbehinderte Kinder empfohlen hatte, ist nun auch in Rostock der Wunsch vieler Familien geschädigter Kinder in Erfüllung gegangen.“
Was heroisch klingt, enthält bei genauerem Lesen einen weiteren Aspekt, nämlich dass es derartige Einrichtungen bis zu diesem Zeitpunkt in der DDR nicht gab bzw. diese erst seit kurzer Zeit existierten. Für Organisation und Betrieb dieser Einrichtungen gab es kaum Erfahrungen. (Auch in der Bundesrepublik war man Ende der 1960er Jahre nicht viel weiter.)
Obermedizinalrat Dr. Rudolf Grauert, Ärztlicher Direktor am Medizinischen Zentrum Mitte und auch Vorsitzender der Sektion Soziale Rehabilitation – Organisation und Gesetzgebung in der Gesellschaft für Rehabilitation bei der Deutschen Gesellschaft für die gesamte Hygiene der Deutschen Demokratischen Republik, setzte sich Ende der 1960er und in den 1970er Jahren sehr für Erfahrungsaustausch und Fortbildung ein. Es wurde mit ähnlichen Einrichtungen kooperiert, die es zum Zeitpunkt der Eröffnung der Rostocker Tagesstätte bereits in Berlin, Leipzig und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) gab.
Die Sondertagesstätten wurden betrieben, um die Kinder und Jugendlichen, die nicht schulfähig waren, soweit zu befähigen, dass sie möglichst selbstständig die notwendigsten Tätigkeiten wie essen, an- und ausziehen und Körperhygiene ausführen konnten. Mit beschäftigungstherapeutischen Maßnahmen wurden die Kinder gefördert, um ihnen eventuell den Übergang in eine Rehabilitationswerkstatt zu ermöglichen. Für die Rostocker Einrichtung wurde zunächst von einer Kapazität für 50 Betreuungsplätzen ausgegangen, Mitte der 1970er Jahre wurden 60 Kinder betreut.
Der Stellenplan der Einrichtung vom 01.07.1969:
1 leitender Pädagoge, 5 Gruppenerzieher, 2 pädagogische Kräfte für Sonderbetreuung, 6 Betreuungskräfte (Pflegerinnen), 1 Heimschwester 0,5 VBE, 1 Sachbearbeiterin 0,5 VBE, 2 Raumpflegerinnen, 1 Köchin, 1 Küchenhilfe 0,5 VBE, 1 Heizer und
Hausmeister, 1 Näherin 0,5 VBE
Gesamt: 20 VBE
Die Lohnkosten waren der größte Ausgabeposten und wurden 1970 mit 123.000 Mark veranschlagt. Hinzu kamen Ausgaben z.B. für Verpflegung, Werterhaltung, Betriebskosten, Arbeitsmittel. Die Kosten für Verpflegung in Höhe von 1,50 Mark pro Kind und Tag wurden von den Eltern getragen. Dies berücksichtigt ergaben sich für das Jahr 1970 Aufwendungen für den Betrieb der Sondertagesstätte in Höhe von 180.000 Mark. In einer Kostenberechnung für eine Sondertagesstätte im Verhältnis zur Heimunterbringung kommt Dr. Grauert am 06.07.1970 zu folgenden Ergebnissen:
1 Heimtag pro Kind 16,-
1 Kind pro Jahr 5.840,-
50 Kinder pro Jahr 292.000,-
Die Sondertagesstätte wechselte zu einem mir nicht bekannten Zeitpunkt von der Poliklinik Mitte in den Verantwortungsbereich des Rehabilitationszentrums der Stadt Rostock. Im Februar 1987 wandte sich der Leiter des Rehabilitationszentrums Schumacher schriftlich an den Stadtrat und Kreisarzt OMR Dr. Hermann. Schumacher schilderte unter Berufung auf die Leiterin der Einrichtung die baulichen Mängel im Gebäude, die besonders die Heizungsanlage und das Wasserrohrleitungssystem betrafen. Er kritisierte, dass im Hause zu wenig Raum für Kinder und Personal sei und dass die sanitären Anlagen völlig unzureichend seien. Außerdem sei von einem weiter steigenden Bedarf an Betreuungsplätzen auszugehen. Dr. Schumacher stellte den Antrag, ein neues Gebäude für die Sondertagesstätte zur Verfügung zu stellen. Die Antwort des Stadtrates vom 10.03.1987 ließ es an Deutlichkeit nicht mangeln: „Aus Sicht der Planung bis 1990 ist keine Erweiterung der Kapazitäten für Sondertagesstätten vorgesehen. … Ich bitte um die unbedingte Durchsetzung der Instandhaltungsmaßnahmen gegenüber dem Rechtsträger VEB Gebäudewirtschaft.“
Doch es kam anders: Die Krippenvereinigung Rostock machte im Juni 1987 den Vorschlag, die Sondertagesstätte in einer Kombination (das war eine Einrichtung, in der Krippe und Kindergarten in einem Haus, aber doch räumlich getrennt, untergebracht waren) in der Erich-Schlesinger-Straße für den Zeitraum der Rekonstruktion des Gebäudes Rosa-Luxemburg-Straße unterzubringen. Am 17.02.1988 wandte sich Stadtrat Hermann die Abteilung Rehabilitation beim Rat des Bezirkes. Er teilte mit, dass „sich die frühere Tagesstätte für schulbildungsunfähige förderungsfähige Kinder und Jugendliche Rosa-Luxemburg-Straße seit dem 01.02.1988 im Kindergartenteil der Kinderkombination DVZ“ befände und als Tagesstätte Südstadt weitergeführt werde. (Das DVZ war das Dateverarbeitungszentrum, die Kombination war somit wahrscheinlich in betrieblicher Trägerschaft.) Hermann bat um die Genehmigung einer Kapazitätserweiterung um weitere fünf auf 60 Plätze. Das Schreiben lässt die Vermutung zu, dass das Objekt Rosa-Luxemburg-Straße zumindest kurzfristig nicht saniert werden sollte.
Die Nutzung nach 1990
Die Hansestadt Rostock wurde 1992 im Wege eines Ankaufes Eigentümerin des Grundstückes und stellte dieses für gemeinnützige und soziale Zwecke weiterhin zur Verfügung. Ab 1998 nutzte ein Planungsbüro das Gebäude.
Ende 2004 veräußerte die Hansestadt Rostock das Grundstück. Zu diesem Zeitpunkt wies das Gebäude einen sanierungsbedürftigen Zustand auf und stand leer. Nach einer Sanierung des Hauses wird es jetzt wieder wie vor hundert Jahren als Wohnhaus genutzt.